jurisPR-BGHZivilR 13/2012 Anm. 1

Verlust der Anwaltszulassung und Postulationsfähigkeit

Anmerkung zu BGH 8. Zivilsenat, Beschluss vom 24.04.2012 - VIII ZB 111/11
von Prof. Dr. Ekkehart Reinelt, RA BGH

Orientierungssatz zur Anmerkung
Die nach dem Verlust der Anwaltszulassung vorgenommenen Prozesshandlungen des bisherigen Anwalts bleiben wirksam, wenn der Anwalt nicht nach § 156 Abs. 2 BRAO vom Gericht zurückgewiesen wird.

A. Problemstellung
Kann ein Rechtsanwalt, der seine Zulassung durch sofort vollziehbaren Widerruf verloren hat (§§ 13, 14 BRAO) mit prozessualer Wirksamkeit Berufung einlegen, oder verhindert der Entzug der Anwaltszulassung die Wirksamkeit von Prozesshandlungen?

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Amtsgericht hat den Beklagten unter teilweiser Aufrechterhaltung eines zuvor ergangenen Versäumnisurteils zur Zahlung einer Nutzungsentschädigung verurteilt. Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 04.10.2011 zugestellt worden. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte am 04.11.2011 Berufung eingelegt.

Erst später wurde bekannt, dass dem Beklagtenvertreter von seiner Rechtsanwaltskammer bereits mit Bescheid vom 22.07.2010, also über ein Jahr zuvor, unter Anordnung des Sofortvollzugs der Widerrufsverfügung die Anwaltszulassung entzogen worden ist. Der Widerruf ist allerdings nicht bestandskräftig.

Dieser Prozessbevollmächtigte hatte vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht einen begründeten Antrag auf Fristverlängerung gestellt. Er hat die Berufungsbegründung dann – ohne dass eine Verlängerung erfolgt wäre – innerhalb der von ihm erbetenen verlängerten Frist eingereicht.

Das Landgericht hat nach entsprechendem Hinweis die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen. Das Rechtsmittel sei nicht durch einen Rechtsanwalt eingelegt worden.
Gegen diese Entscheidung hat der Beklagte durch einen beim BGH zugelassenen Rechtsanwalt frist- und formgerecht Rechtsbeschwerde einlegen und diese innerhalb verlängerter Frist begründen lassen.

Der BGH gibt der Rechtsbeschwerde statt. Er hebt den angefochtenen Beschluss des Landgerichts auf und verweist die Sache an das Berufungsgericht zurück.

Die Rechtsbeschwerde, die sich gegen die Verwerfung der Berufung als unzulässig richtet, sei nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie sei auch im Übrigen zulässig, weil eine Entscheidung des Beschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 547 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Der angefochtene Beschluss verletze die verfassungsrechtlich verbürgten Ansprüche des Beklagten auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Der BGH führt zur Begründung der Rechtsbeschwerde aus: Der sofort vollziehbare Widerruf der Anwaltszulassung des Prozessbevollmächtigten habe nicht dazu geführt, dass dieser Prozessbevollmächtigte seine Postulationsfähigkeit sofort verliert. Deshalb hätte das frist- und formgerecht eingelegte Rechtsmittel nicht gemäß § 522 Abs. 1 ZPO verworfen werden dürfen.

Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erlischt erst dann, wenn der Widerruf der Zulassung bestandskräftig geworden ist (§ 13 BRAO). Die Anordnung des Sofortvollzugs gemäß § 14 Abs. 4 BRAO führe zwar – so der VIII. Zivilsenat – dazu, dass der Prozessbevollmächtigte ab Zustellung des entsprechenden Beschlusses nicht mehr befugt sei, seine Anwaltstätigkeit auszuüben (§ 155 Abs. 2 BRAO). Dieses berufsrechtliche Verbot habe aber nicht die Konsequenz, dass die Berufungseinlegung unwirksam sei. Denn § 155 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 14 Abs. 4 BRAO bestimme, dass verbotswidrig vorgenommene Rechtshandlungen zur Wahrung der Rechtssicherheit als wirksam zu gelten haben, es sei denn, dass zuvor eine Zurückweisung des Rechtsanwalts nach § 156 Abs. 2 BRAO erfolgt. Diese Regelung, wonach das Gericht einen Rechtsanwalt, der entgegen einem Berufs- oder Vertretungsverbot auftritt, zurückweisen „soll“, sei im Interesse der Rechtssicherheit in die BRAO aufgenommen worden. Es solle der Rechtsverkehr nicht mit der Prüfungspflicht belastet werden, ob eine wirksame Anwaltszulassung besteht. Die Postulationsfähigkeit eines verbotswidrig handelnden Anwalts bleibe auch dann unberührt, wenn er sich bewusst über das Tätigkeitsverbot hinwegsetzt (BGH, Beschl. v. 22.02.2010 - II ZB 8/09).

Das Berufungsgericht hat sich von seinem Standpunkt aus konsequent nicht mehr mit der Frage der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auseinandergesetzt. Hierzu führt der BGH aus: Auch für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist sei dem Beklagten von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zwar habe der Prozessbevollmächtigte die Berufung nicht rechtzeitig begründet. Er hat jedoch unter Darlegung erheblicher Gründe i.S.v. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO vor Ablauf der Begründungsfrist deren Verlängerung um einen Monat beantragt und die Begründung dann innerhalb der von ihm beantragten verlängerten Frist nachgereicht. Auch bei Einreichung dieser Schriftsätze habe der Prozessbevollmächtigte seine Postulationsfähigkeit noch nicht eingebüßt. Der Verwerfungsbeschluss in Bezug auf die Berufung enthalte nicht zugleich die Zurückweisung des Beklagtenvertreters nach § 156 Abs. 2 BRAO.
Ein Prozessbevollmächtigter dürfe grundsätzlich darauf vertrauen, dass einem – unter Darlegung eines erheblichen Grundes i.S.d. § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO gestellten ersten Verlängerungsantrag – stattgegeben wird (st. Rspr., vgl. Senatsbeschlüsse v. 10.03.2009 - VIII ZB 55/06 - NJW-RR 2009, 933 Rn. 2 und v. 18.08.2009 - VIII ZB 62/08 Rn. 11, jeweils m.w.N.). Da die Berufungsbegründung innerhalb der laufenden Wiedereinsetzungsfrist nachgeholt wurde, muss dem Beklagten vom Berufungsgericht – so der BGH – nach § 236 Abs. 2 HS. 2 ZPO von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.

C. Kontext der Entscheidung
Bereits durch den vom BGH zitierten Beschluss vom 22.02.2010 (II ZB 8/09, vgl. Anmerkung Reinelt, jurisPR-BGHZivilR 8/2010 Anm. 4) hat der BGH in einem vergleichbaren Fall eine Rechtsbeschwerde für zulässig und begründet gehalten. Jene Entscheidung beschäftigt sich mit der Auslegung des § 155 BRAO, die dem Rechtsanwalt, gegen den ein Berufsverbot verhängt ist, verbietet, Rechtsanwaltstätigkeiten auszuüben, es sei denn es handle sich um eigene Angelegenheiten (§ 155 Abs. 4 BRAO).

Bereits mit der älteren Entscheidung aus dem Jahre 2010 wurde bekräftigt, dass das Berufsverbot nicht auf die Postulationsfähigkeit und damit auf die Rechtswirksamkeit der Prozesshandlungen durchschlägt. Diese sollen vielmehr aus Gründen der Rechtssicherheit wirksam bleiben. Die neue Entscheidung bestätigt diese Auslegung. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich bestimmt, dass verbotswidrig vorgenommene Rechtshandlungen zur Wahrung der Rechtssicherheit als wirksam zu gelten haben, wenn nicht zuvor die Zurückweisung nach § 156 Abs. 2 BRAO erfolgt ist.

Die hier besprochene Entscheidung steht in einer Reihe vergleichbarer höchstrichterlicher Erkenntnisse, die regelmäßig bekräftigen, dass nicht jeder Berufsverstoß – im vorliegenden Fall sogar nicht der Entzug der Anwaltszulassung – zur Unwirksamkeit von Prozesshandlungen führt (vgl. dazu beispielsweise auch BGH, Urt. v. 14.05.2009 - IX ZR 60/08 - NJW-RR 2010, 67: Ein Verstoß des Rechtsanwalts gegen § 43 Abs. 4 BRAO – Vertretung widerstreitender Interessen – lässt die Wirksamkeit der erteilten Prozessvollmacht und der Prozesshandlungen unberührt).

D. Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis bleibt es also dabei: Berufsrechtliche Verstöße oder gar der Entzug der Anwaltszulassung können in vielen Fällen materiell-rechtliche Auswirkungen haben (§§ 134, 138 BGB) und beispielsweise zur Unwirksamkeit des Anwaltsvertrags führen. Aus Gründen der Rechtssicherheit bleiben jedoch die vom materiellen Rechtsgeschäft zu unterscheidende Prozessvollmacht und damit auch die Wirksamkeit von Prozesshandlungen in der Regel unberührt.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Die besprochene Entscheidung bekräftigt die ständige Rechtsprechung in Bezug auf Verlängerung von Rechtsmittelfristen. Rechtsmittelbegründungsfristen kann man bekanntlich verlängern lassen. Zuständig ist nach § 519 Abs. 2 ZPO der Vorsitzende Richter. Für die Möglichkeit der Fristverlängerung ist der rechtzeitige Eingang des Antrags erforderlich. Der Vorsitzende kann aber auch noch nach Ablauf der Frist die Verlängerung aussprechen, wenn der Antrag rechtzeitig eingegangen ist (BGH, Beschl. v. 18.03.1982 - GSZ 1/81 - NJW 1982, 1651; BGH, Beschl. v. 17.12.1991 - VI ZB 26/91 - NJW 1992, 842). Für die Wiedereinsetzung wird eine Erkundigung vor Fristablauf nicht verlangt. Die durch den Vorsitzenden Richter gewährte Fristverlängerung gilt sogar, wenn der Antrag nicht formgerecht eingereicht war und auch dann, wenn der ihn stellende Anwalt nicht einmal postulationsfähig war (Senatsbeschl. v. 22.10.1997 - VIII ZB 32/97 - NJW 1998, 1155). Bei der ersten Verlängerung darf der Rechtsanwalt – anders als bei wiederholten Verlängerungen – auf die Beachtung einer jahrelangen Bewilligungspraxis vertrauen, also auf die erstmalige Verlängerung, wenn stichhaltige Gründe für das Verlängerungsgesuch vorgetragen werden (statt vieler: Zöller, ZPO, 29. Aufl., § 520 Rn. 19, 23).