MDR-Report 19/2003/ R17

Buchbesprechung

Egon Schneider
ZAP-Ratgeber Prozessrecht "Praxis der neuen ZPO"
ZAP-Verlag, 2003, 745 Seiten, 89 EUR

Rechtsanwalt Dr. Ekkehart Reinelt, München

Rechtzeitig zum In-Kraft-Treten der ZPO-Reform hatte Egon Schneider (bereits im November 2001) den Ratgeber Prozessrecht "ZPO-Reform" veröffentlicht. Wenige Tage nach Auslieferung war diese ausgezeichnete Hilfsmittel, das die spürbaren rechtsstaatlichen Einbußen der ZPO-Reform zutreffend kritisiert hat, vergriffen. Jetzt hat Egon Schneider gemeinsam mit seinem Sohn, Rechtsanwalt Norbert Schneider, eine 2. Auflage mit dem Titel "Praxis der neuen ZPO" veröffentlicht. Der "Ratgeber Prozessrecht" behandelt praktische Probleme der geänderten ZPO unter Verarbeitung entsprechender Anregungen aus der Praxis vertieft und neu.

Das Werk ist in 10 Teile gegliedert. Die Einführung befasst sich mit dem ursprünglichen und dem dann - erfreulicherweise - nur sehr eingeschränkt verwirklichten Reformvorhaben und gibt einen klaren, verständlichen Überblick über die Neuerungen mit kritischer Kommentierung. In Teil 1 geht es um Allgemeine Vorschriften der ZPO (§ 1 bis § 251), in Teil 2 um das Verfahren im ersten, in Teil 3 um das Verfahren im zweiten Rechtszug. Teil 4 beschäftigt sich mit Beweisrechtsberufungen. In diesem Zusammenhang kritisiert Schneider mit Recht die Praxis, einem Zeugen grundsätzlich zu glauben, statt Beweise dezidiert und anhand von Indizien auf ihren Wahrheitsgehalt kritisch zu untersuchen. Das führt in der Praxis dazu, dass Richter bei kontroversen Zeugenaussagen oft zu schnell in ein "non-liquet" fliehen. In Teil 5 (Revision) beschäftigt Schneider sich eingehend mit den neuen Zulassungsvoraussetzungen für die Revision nach §543 ZPO, der Nichtzulassungsbeschwerde und der Durchführung der Revision. In Teil 6 werden die sofortige Beschwerde, in Teil 7 die Rechtsbeschwerde, in Teil 8 sonstige Änderungen der ZPO und schließlich - besonders hilfreich - in den Teilen 9 und 10 Verfahrens- und Verfassungsverstöße vorgestellt.

Das Werk versteht sich als Leiffaden für Prozessbeteiligte im Umgang mit der neuen Zivilprozessordnung. Es enthält eine umfassende Darstellung der Neuregelung der ZPO und für die Praxis taktische Hinweise und Muster. Seine berechtigten Vorbehalte gegenüber der ZPO-Reform hält Schneider aufrecht. Im Vorwort führt er aus:

"Noch nie hat es seit der hundertjährigen Geltung der ZPO eine Novellierung gegeben, die so unehrlich, dilettantisch und praxisfeindlich ausgefallen ist wie die ZPO-Reform 2002." (vgl. hierzu auch Leupertz "Auf hoher See", BrBp 2003, 92).

An vielen Stellen illustriert Schneider seine herbe und scharfzüngige Kritik: Er moniert mit Recht die bedauerliche und überflüssige Verwendung generalklauselartiger Leerbegriffe in der neuen ZPO (z. B. "grundsätzliche Bedeutung", vgl. Einführung Rz.13), die Raum für subjektive, wissenschaftlich nicht abklärbare Bedeutung geben. Er legt den Finger auf die Wunde der Begriffsvertauschung und auf weitere zahlreiche Ungenauigkeiten der Neuregelung ("Wert der Beschwer" und "Wert des Beschwerdegegenstands" in §511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, vgl. Rz. 583 n. F).

Kritisch beschäftigt sich Schneider mit der Reduzierung des Berufungsumfangs nach § 529 ZPO und der dieser Neuregelung zu Grunde liegenden tatsächlichen Vermutung, wonach die erstinstanzliche Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Zweifel fehlerfrei sei, und bezieht in diesem Zusammenhang zutreffend und überzeugend den heutigen Stand der Aussagepsychologie ein (Rz. 845 ff.). Besonderen Nachdruck legt der Verfasser auf alle Fragestellungen, die den Parteien ein faires Verfahren garantieren sollen, so z. B. auf den Vertrauensgrundsatz (Rz. 196. 197) und auf das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Rz. 1328, 1457 ff.), dessen herausragende Bedeutung das BVerfG immer wieder betont.

Rezensenten betrachten es gelegentlich als ihre Aufgabe (vielleicht auch als Beleg ihrer eigenen Kompetenz), Verbesserungsbedürftiges. Unvollständigkeiten oder Mängel auszumachen, kurz: ein Haar in der Suppe zu finden. Ich finde keines. Höchst subjektiv stören mich nur die zwar eingebürgerten und plastischen, aber gleichwohl unschön verkürzten Begriffe "Gehörsverletzung" (das klingt so anatomisch) oder "Gehörsrüge" (Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs). Aber hierüber ist nicht zu diskutieren. Was schon von Schneiders Werk; .Die Klage im Zivilprozess' 2000 zu sagen war (vgl. hierzu Reinelt, BB 2000, Heft 43. S. IX), gilt auch hier. Die Veröffentlichungen von Schneider unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von Handbüchern zahlreicher anderer Autoren. Das gilt für den Inhalt ebenso wie für den Stil. Schneider legt sich fest. Er schreibt seine Meinung dezidiert, geistreich und kritisch in klaren Formulierungen. Das überzeugende Werk belegt erneut nicht nur die große Erfahrung und das breite Wissen des Verfassers in Rechtswissenschaft und Praxis, sondern auch seine profunden Kenntnisse in vielen anderen Gebieten wie in der Psychologie und der Logik (vgl. auch sein Werk "Logik für Juristen").

Bei aller Schärfe der Formulierungen sind die Beurteilungen ausgewogen und zeigen Unzulänglichkeiten des gesetzgeberischen und richterlichen Verhaltens und Schwachstellen der juristischen Praxis ebenso gnadenlos wie überzeugend auf. Dabei bleibt Schneider aber nicht stehen. Vielmehr gibt er notwendige und nützliche Hilfen für Praxis und Taktik bei Anwendung der neuen Verfahrensvorschriften. Für Rechtsanwälte bietet das Buch eine ausgezeichnete Anleitung zum geschickten Umgang mit der neuen ZPO. Aber auch für Richter kann es eine große Hilfe sein. Die Unabhängigkeit des Richters - so hat Arthur Kaufmann es formuliert - wächst in dem Maße, wie er sich seiner Abhängigkeiten bewusst wird. Auch zu dieser Erkenntnis kann das Werk von Egon Schneider viel beitragen. Es ist daher nicht nur Anwälten, sondern auch Richtern nachdrücklich zu empfehlen. Auch für dieses neue Buch des Verfassers gilt, was grundsätzlich zu Veröffentlichungen des "Grand Seigneur" des Zivilprozessrechts zu sagen ist: ein ausgezeichnetes Werk, geschrieben aus einer Fülle breiten und profunden Wissens und großer praktischer Erfahrung, mit Blick weit über den juristischen Tellerrand hinaus, in pointierten Stellungnahmen brillant formuliert und spannend zu lesen. Kurz: ein echter Egon Schneider.