NJW 1968, 2152

B. Strafrecht
a) BGH

15.* StGB § 222 (Vorbeifahren an einem haltenden Omnibus)

Ein Kraftfahrer muß bei dem Vorbeifahren an einem in Gegenrichtung haltenden Omnibus einen Abstand von mindestens 2 m halten oder an ihm nur mit der sogenannten "Anhaltegeschwindigkeit" vorbeifahren.

BGH, Urt. v. 10. 4.1968 ? 4 StR 62/68 (LG Essen)

Von Wiss. Assistent Ekko Reinelt, Regensburg

 

Zu Nr. 15. Anmerkung: In seiner Entscheidung geht der 4. StS des BGH davon aus, daß die Ursächlichkeit eines Verhaltens für einen Unfall im Straßenverkehr sich nur nach dem wirklichen, nicht nach einem gedachten Gesehehensablauf beurteilen läßt Der Senat hat damit einen in den Entscheidungen BGH, NJW 57, 1526, BGH, VRS 24, 124 und BGH, VRS 32, 37 ausgesprochenen Grundsatz bestätigt. Gleichzeitig erklärt das Gericht allerdings, die Fahrweise der Angeklagten (also das Vorbeifahren am Omnibus im Abstand von 1,40 m bis 1,50 m mit einer Geschwindigkeit von mindestens 30 km/st) wäre für den Tod der Fußgängerin dann nicht ursächlich gewesen, wenn der Unfall sich auch bei Einhaltung der "Anhaltegeschwindigkeit" ereignet hätte.

Bereits in der Entscheidung BGHSt. 11, 1 (3, 7) = NJW 58, 149 und später in VRS 32, 37 hatte der 4. StS, die Rechtsauffassung vertreten, daß ein verkehrswidriges Verhalten nicht als ursächlich für einen Erfolg angesehen werden "darf", wenn sicher ist, daß es bei verkehrsgerechtem Verhalten auch zum Erfolg gekommen wäre. Diese Behauptung, die das Gericht nunmehr wiederholt, läßt sich mit dem zutreffenden Satz, nur der tatsächliche, nicht ein gedachter Geschehensablauf sei für die Beurteilung von Kausalzusammenhängen maßgebend, nicht vereinbaren.

Leugnet man nämlich die Kausalität eines verkehrswidrigen Verhaltens für einen Unfall, weil ein entsprechendes verkehrsrichtiges Verhalten ebenfalls zu diesem Erfolg geführt hätte, so wird nicht nur der wirkliche Unfallhergang beurteilt, sondern dieser wird mit einem vorgestellten anderen verglichen. Dabei wird die Feststellung von Kausalzusammenhängen von diesem Vergleich abhängig gemacht.

Dieses Verfahren ist praktisch kaum. durchzuführen und sachlich wie methodisch angreifbar: Da die Zahl der zum Zeitpunkt des Unfalls möglichen verkehrsrichtigen' Verhaltensweisen nahezu unbegrenzt ist (die Angeklagte hätte beispielsweise jede beliebige Geschwindigkeit unter 30 km/st einhalten oder bzw. und beliebig nah am rechten Straßenrand fahren können), müßte die Ursächlichkeit nach dieser Auffassung verneint werden, wenn auch nur bei einem gedachten richtigen Verhalten der Unfall ebenfalls geschehen wäre (MÜHLHAUS DAR 65, 38).

Um ein Kriterium dafür zu finden, welche aus der großen Zahl der vorstellbaren richtigen Verhaltensweisen hinzugedacht werden soll, könnte man sich darauf beschränken, nur den "Pflichtverstoß" des Verhaltens hinwegzudenken (so Mühlhaus aa0). Der "Pflichtverstoß" ist jedoch kein abtrennbarer oder hinwegzudenkender Bestandteil eines Verhaltens. Er kann nicht Ursache sein, weil er nichts weiter darstellt, als das Rechtswidrigkeitsurteil über ein bestimmtes Verhalten. Wenn dieses objektive Urteil über ein bestimmtes Verhalten hinweggedacht wird, das Verhalten also nicht mehr das Prädikat "rechtswidrig" trägt, denkt man notwendig ein anderes als das reale Verhalten hinzu.

Bei der Frage, ob ein Verhalten einen Erfolg bedingt hat, geht es darum, den realen Zusammenhang zwischen einer Handlung und einem Erfolg (oder aber den hypothetischen Zusammenhang zwischen einer Unterlassung und einem Erfolg) zu ermitteln. Dazu darf nur der wirkliche Hergang untersucht werden. Der einzige Weg, der zuverlässig zur Feststellung des Kausalzusammenhangs zwischen Handlung bzw. Unterlassung und Erfolg führt, ist die Anwendung der Conditio-sine-qua-non-Formel (Ausnahmen gelten allerdings für die Fälle der alternativen Kausalität).

Durch die vom BGH befürwortete Methode wird - anders als beim bloßen Hinwegdenken einer bestimmten Handlung - der reale Geschehensablauf in der Vorstellung willkürlich verändert. Zwar verwandelt man in der Vorstellung auch das reale Geschehen durch bloßes Hinwegdenken einer Bedingung nach der Conditio-sine-qua-non-Formel. Diese vorgestellte Veränderung ist aber richtig und notwendig, um anhand ihres gedachten Einflusses auf den Erfolg die Ursächlichkeit oder Nichtursächlichkeit eines Verhaltens festzustellen.

Wenn man ein bestimmtes Verhalten hinzudenkt, so stellt man sich auch einen anderen, einen hypothetischen Erfolg vor. Hinzugedachtes Verhalten und hinzugedachter hypothetischer Erfolg haben mit dem realen ("hinweg gedachten") Verhalten und dem realen Erfolg nichts zu tun. Das Hinzudenken führt 'nicht zur Ermittlung des realen Kausalverlaufs.

Um die Kausalität einer Bedingung für einen Erfolg festzustellen, bleibt also nur die Möglichkeit, im Wege des Eliminationsverfahrens Umstände auszuscheiden, die nach der Formel der Äquivalenztheorie nicht Ursache sind.

Da der ontologische Begriff des Bedingungszusammenhangs, den die Äquivalenztheorie verwendet, mit rechtlicher Bewertung von Verhaltensweisen nichts zu tun hat, kann auch nicht eine spezifisch "straf-" oder zivilrechtliche Kausalität behauptet oder geleugnet werden.

Daraus folgt, daß das Hinzudenken eines verkehrsrichtigen Verhaltens nichts an der Ursächlichkeit eines durch die Conditio-sine-qua-non-Formel als kausal erwiesenen verkehrswidrigen Verhaltens ändern kann (Vgl. SPENDEL, Conditio-sine-qua-non-Gedanke und Fahrlässigkeitsdelikt, JuS 64, 14 [15]).

Selbst wenn der Unfall sich auch ereignet hätte, wenn die Angeklagte nur mit "Anhaltegeschwindigkeit" gefahren wäre (was als hypothetische Feststellung nicht sicher, nur wahrscheinlich ist), so bliebe ihre verkehrswidrige Handlung (Vorbeifahren am Omnibus im Abstand von 1,40 m bis 1,50 in mit einer Geschwindigkeit von mindestens 30 km/st) dennoch für den Tod der Fußgängerin kausal.

Auch wenn man eine Rechtfertigung durch verkehrsrichtiges Verhalten anerkannte, hätte die Angeklagte eine rechtswidrige Tötung begangen, weil sie tatsächlich verkehrswidrig gehandelt hat.

Auf die Frage, ob es an einem besonderen "Rechtswidrigkeitszusammenhang" fehlt, wenn der Verletzer im konkreten Fall zwar rechtswidrig gehandelt hat, den spezifischen Erfolg aber auch durch rechtmäßiges Verhalten hätte herbeiführen können (so LEMHÖFER JuS 66, 341 Fußn. 5; von CAEMMERER Das Problem der überholenden Kausalität im Schadensersatzrecht, Karlsruhe 1962, S. 31), kann hier nicht eingegangen werden. Es ist jedenfalls zweifelhaft, ob es einen solchen gesetzlich nirgends normierten Zusammenhang als positive Haftungsvoraussetzung überhaupt geben kann und zwischen welchen Gegenständen er bestehen soll.

Die Entscheidung hinge also - auch wenn der Unfall bei Einhaltung der verkehrsrichtigen Geschwindigkeit (wahrscheinlich) geschehen wäre - lediglich davon ab, ob das' Verhalten der Angeklagten trotz allem als fahrlässig bezeichnet werden könnte, also individuell vorwerfbar wäre.