ZRP 1994, 333

Zur Haftung des Arzneimittelherstellers für die Übertragung von Viren durch Blutprodukte

Rechtsanwalt Dr. Ekkehart Reinelt, München

 

A. In verschiedenen Ländern ist zur Zeit eine Reihe von Prozessen anhängig, in denen Empfänger von Blutplasmaderivaten oder deren Krankenkassen Schadensersatzansprüche gegen Arzneimittelhersteller geltend machen. In den meisten dieser Fälle liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Ein Empfänger von Blutplasmaderivaten, häufig ein Hämophiler, ist an Aids erkrankt. Hämophile, die an einer plasmatischen Gerinnungsstörung leiden - es fehlt ihrem Blut der sogenannte Faktor VIII - hatten noch in der Mitte der 40er Jahre im Durchschnitt lediglich eine Lebenserwartung von 16,5 Jahren. Anfang der 70er Jahre lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Hämophilen zwischen 23 und 30 Jahren. Erst die Entwicklung der Hochkonzentrate, die den Faktor VIII, seltener den Faktor IX ersetzen, und die den Hämophilen allerdings regelmäßig und ständig in erheblichen Dosen zugeführt werden müssen, haben dazu geführt, daß auch Hämophile eine normale Lebenszeiterwartung haben, daß Körperbehinderungen infolge Blutungen weitgehend vermieden werden können und daß die Hämophilen damit voll in Schule, Berufsausbildung und Beruf eingegliedert werden konnten.

Nach dem Vortrag der Kläger in den genannten Verfahren wurden Anfang der 80er Jahre mit der Zuführung dieser Hochkonzentrate HIV-Viren übertragen. Die Konzentrate wurden und werden hergestellt aus sogenannten "Large-Pools", Blutspenden, die in Plasmapheresestationen gewonnen wurden und werden. Die Bundesrepublik Deutschland ist zur Aufbringung des entsprechenden Spenderaufkommens auf Importe aus den USA angewiesen. Anfang der 80er Jahre, bevor das Aidsvirus entdeckt war (das geschah im Mai 1984) und demgemäß auch keine Testmöglichkeiten zur Verfügung standen, dieses Virus zu erkennen und auszuscheiden, waren einige dieser Pools durch entsprechende Viren verunreinigt.

Im Laufe des Jahres 1981 entwickelte ein deutscher Hersteller ein Hitzeinaktivierungsverfahren mit Blickrichtung auf die Eliminierung des Hepatitisvirus. Erst in wesentlich späterer Zeit, nachdem das Aidsvirus isoliert war, konnte retrospektiv festgestellt werden, daß dieses Hitzeinaktivierungsverfahren, gegen das aus anderen medizinischen Gründen erhebliche Bedenken bestanden, das Aidsvirus sozusagen zufällig miteliminiert hat.

In den Prozessen, die in der Bundesrepublik Deutschland vorwiegend von den Ersatzkassen gegen die Hersteller geführt werden, stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit die Hersteller für die Folgen der Übertragung einer solchen Infektion haften. Dabei stehen die Geschädigten bzw. Ersatzkassen häufig vor dem Problem, daß Präparate mehrerer Hersteller verabreicht worden sind und heute in aller Regel nicht mehr geklärt werden kann, ob und welche dieser Präparate tatsächlich kontaminiert waren.

B. In Betracht kommt eine Haftung der Arzneimittelhersteller nach § 84 AMG bzw. § 823 Abs. 1 BGB (Produkthaftung) oder § 823 Abs. 2 i. V. m. § 5 AMG.

Das ProdHaftG, das die EG-Richtlinie zur Produkthaftung in der Bundesrepublik Deutschland umsetzt, erfaßt diese Fälle nicht: Nach § 15 Abs. 1 ProdHaftG gelten die Vorschriften dieses Gesetzes nicht für Schadensereignisse im Sinne des AMG.

1. § 84 AMG

1. § 84 AMG ist am 1. 1. 1978 in Kraft getreten (Art. 10 AMG). Wer aus § 84 AMG Ansprüche geltend macht, hat in vollem Umfang darzulegen und zu beweisen, daß infolge der Anwendung eines vom Anspruchsgegner nach Inkrafttreten des AMG in Verkehr gebrachten Arzneimittels und dessen Abgabe an einen Verbraucher der in § 84 AMG näher beschriebene Schaden eingetreten ist.

a) Voraussetzung der Haftung ist zunächst die Darlegung und der Nachweis eines Kausalzusammenhangs durch den Geschädigten zwischen der Verabreichung eines vom Anspruchsgegners vertriebenen Arzneimittels und der entsprechenden Rechtsgutsverletzung beim Geschädigten. Der Schaden muß gerade durch die schädliche Eigenschaft des Arzneimittels verursacht sein. Die Beweislast für den in dieser Weise beschriebenen Kausalverlauf trägt der Verletzte oder wer sonst Ansprüche geltend machen kann. Dabei genügt es in concreto nicht, einen solchen theoretisch möglichen Zusammenhang zwischen der Verabreichung irgendwelcher möglicherweise Aidskontaminierter Blutplasmaderivate zu behaupten, sondern es muß im einzelnen dargelegt werden, welche Präparate welchen Herstellers wann dem Geschädigten verabreicht worden sind, und zwar unter Angabe der einzelnen Chargen. Nur dann ist ein konkret und individuell schädigendes Ereignis behauptet und der Hersteller im übrigen auch in die Lage versetzt, gegebenenfalls einen Entlastungsbeweis anzutreten.

Zur schlüssigen Darlegung der Anspruchsvoraussetzungen des § 84 AMG gehört es daher, daß der Anspruchsteiler darlegt, daß ein von dem Anspruchsgegner vertriebenes Faktor-VIII-Präparat HIV enthalten hat und dem Geschädigten verabreicht wurde und daher dessen Immundefekt und Erkrankung ausgelöst hat. Eine allgemeine Beweiserleichterung in Form einer Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten kennt das AMG nicht. Es bleibt daher bei der Beweisbelastung des Anspruchstellers.

Dementsprechend reicht die Behauptung des Anspruchstellers, ein hoher Prozentsatz infizierter Bluter im Vergleich zur übrigen Bevölkerung weise auf die Kausalität der Faktor-VIII-Behandlung für die Infizierung hin, nicht aus.

Denkbar ist allerdings, daß dem Geschädigten ein Anscheinsbeweis zu Hilfe kommt, wenn es mehrere gleichlaufende Fälle gibt. Wenn der Anspruchsteller das darlegen und beweisen kann, ist es wiederum Aufgabe des beklagten Herstellers, ernsthafte Möglichkeiten eines abweichenden Geschehensablaufes darzutun (nicht zu beweisen). Der Hersteller kann dann etwa folgendes darlegen:

- Behandlung mit anderen aus Humanblut hergestellten Arzneimitteln oder Blutprodukten (z. B. Vollbluttransfusion, Krypräzipitate etc.);

- Behandlung mit vor 1978 in Verkehr gebrachten Faktor-VIII-Präparaten;

- Behandlung mit anderen nicht vom Anspruchsgegner im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland in den Verkehr gebrachten Faktor-VIII-Präparaten;

- Behandlung mit von anderen pharmazeutischen Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland in Verkehr gebrachten Faktor-VIII-Präparaten;

- anderweitige Behandlung oder Infizierung auf anderem Wege (beispielsweise durch verunreinigte Spritzen oder Instrumente, Geschlechtsverkehr);

- Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe.

Wenn der Hersteller solche ernsthafte Möglichkeiten eines anderen Geschehensablaufes darlegt, kommt ein Anscheinsbeweis nicht in Betracht und bleibt es bei der vollumfänglichen uneingeschränkten Darlegungs- und Beweislast des Anspruchstellers für eine Infizierung durch das gerade vom Anspruchsgegner in Verkehr gebrachte Präparat.

b) Fraglich ist, ob dem Anspruchsteller - sollten die Präparate mehrerer Hersteller verabreicht worden sein - die Beweiserleichterung des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB im Rahmen des AMG zugute kommt.

Die ursprünglich zweifelhafte Frage, ob § 830 Abs. 1 S. 2 BGB grundsätzlich überhaupt gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmer Anwendung finden kann, der nur aus der Gefährdungshaftung des § 84 AMG in Anspruch genommen wird, wurde bei der Beratung des neuen AMG im Rechtsausschuß und im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestages erörtert. In seiner Stellungnahme vom 17. 3. 1976 hat der Rechtsausschuß den Mehrheitsbeschluß wie folgt festgehalten:

"Der Rechtsausschuß hat die Frage erörtert, wer haftet, wenn nicht geklärt werden kann, welches von mehreren Arzneimitteln verschiedener Hersteller einen Schaden verursacht hat. Der Rechtsausschuß geht davon aus, daß der Rechtsgedanke des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB hier entsprechend anzuwenden ist und sich ein neuer Tatbestand (im AMG) erübrigt."

Angesichts der Tatsache, daß § 830 Abs. 1 S. 2 BGB von der herrschenden Meinung auch im Rahmen von Gefährdungshaftungstatbeständen wie § 7 StVG oder auch bei der Tierhalterhaftung nach § 833 BGB angewendet wird, liegt es nahe, diese Vorschrift zumindest analog auch im Gefährdungshaftungsrecht des Arzneimittelrechts anzuwenden.

Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB ist in jedem Fall, daß die mehreren selbständigen Handlungen "sachlich, räumlich und zeitlich untereinander und mit der alternativ verursachten Schädigung einen tatsächlich zusammenhängenden einheitlichen Vorgang bilden" und daß die einzelne Handlung als Teil "dieses Vorgangs" erscheinen (muß), in dessen Bereich der rechtswidrige Schadenserfolg fällt. Diesen Zusammenhang hat z. B. das RG für den Fall verneint, daß eine "Frauensperson, die mit verschiedenen Männern geschlechtlich verkehrt hat, geschlechtlich erkrankt ist, ohne daß ermittelt worden ist, durch wen die Ansteckung erfolgte, und ohne daß eine Beziehung zwischen den mehreren Männern und ein Wissen dieser voneinander vorlag".

Nach § 830 Abs. 1 S. 2 BGB haftet nur, wer durch rechtswidrige und schuldhafte (oder im Rahmen der Gefährdungshaftung zurechenbare) unerlaubte Handlung die Gefahr der Rechtsgutsverletzung begründet oder erhöht hat. Denn nur bei tatbestandsmäßigem, objektiv und subjektiv vorwerfbarem oder mindestens zuzurechnendem Verhalten aller potentiellen Schädiger, das der Verletzte zu beweisen hat, ist es gerechtfertigt, ihm den Nachweis hinsichtlich der Person des Verursachers zu ersparen.

Dagegen begründet § 830 Abs. 1 S. 2 BGB für den Geschädigten keine Beweiserleichterung im Hinblick auf die Frage, ob der in Anspruch Genommene überhaupt als Deliktstäter in Betracht kommt. Das deliktische Verhalten aller Beteiligten muß geeignet gewesen sein, den schädigenden Erfolg herbeizuführen. Auch hierfür ist der Geschädigte beweispflichtig. Ist bereits zweifelhaft, ob der potentiell Haftende überhaupt eine unerlaubte Handlung begangen hat, die den Schaden verursachen konnte, so findet § 830 Abs. 1 S. 2 BGB keine - auch keine entsprechende - Anwendung".

Aus diesem Grund ist § 830 Abs. 1 S. 2 BGB unanwendbar, wenn auch nur einer der potentiell Haftenden rechtmäßig gehandelt hat mit der Folge, daß niemand, auch nicht der rechtswidrig Handelnde, in Anspruch genommen werden kann. Daher greift § 830 Abs. 1 S. 2 BGB gleichfalls nicht ein, wenn der Verletzte sich möglicherweise selbst verletzt hat. Schließlich gilt § 830 Abs. 1 S. 2 BGB nicht, wenn zweifelhaft ist, ob dem in Anspruch Genommenen überhaupt eine unerlaubte Handlung zur Last fällt.

In der bereits zitierten Entscheidung des RG heißt es hierzu wörtlich:

"Die Bestimmung des § 830 Abs. 1 S. 1 BGB ersetzt aber ferner nur die sonst erforderliche Feststellung, daß gerade auf den Beklagten die ursächlich wirkende Handlung der Übertragung der Krankheit auf die Klägerin zurückzuführen wäre; sie ersetzt nicht den Nachweis, daß der Beklagte selbst zur Zeit seiner Beiwohnung geschlechtlich krank war und damit die Krankheit auf die Klägerin übertragen konnte. Dieser Beweis war, wie das Berufungsgericht ohne Rechtsirrtum annimmt, in doppelter Weise möglich: einmal, indem die Klägerin unmittelbar die Krankheit des Beklagten zum Gegenstand ihrer Beweisführung machte, oder, indem sie darlegte, daß sie vor der Beiwohnung mit dem Beklagten gesund gewesen sei und keinen Verkehr mit anderen Männern gepflogen habe, auf die die Ansteckung zurückzuführen sein könnte."

Das bedeutet für die hier in Frage stehenden Fälle: Es ist Aufgabe des Anspruchstellers nachzuweisen, daß ein HIV-verseuchtes Arzneimittel gerade auch des Anspruchsgegners dem Patienten verabreicht worden ist. Nur dann, wenn eine Charge des Anspruchsgegners die Infektion verursacht haben kann, kommt die Anwendbarkeit des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB überhaupt in Betracht. Weiterhin muß feststehen, daß es tatsächlich um mehrere mögliche Schädiger geht. Auf den Anwendungsbereich des § 84 AMG bezogen bedeutet das, daß der Anspruchsteller darlegen und gegebenenfalls auch beweisen muß, daß sowohl eine Charge Faktor-VIII-Konzentrat aus dem Bereich des Anspruchsgegners als auch eine solche Charge aus dem Vertrieb anderer pharmazeutischer Unternehmen das HIV-Virus enthalten hat, wobei lediglich ungeklärt bleiben könnte, welche der Chargen kausal die Verletzung und Infizierung des Geschädigten letztlich verursacht hat. Für die Anwendung des § 830 Abs. 1 S. 2 BGB müßte mithin konkret feststehen, daß von mehreren Herstellern kontaminierte Chargen FaktorVIII-Konzentrate dem Verletzten verabreicht worden sind.

Daß § 830 Abs. 1 S. 2 BGB nicht bereits mit der Behauptung zu Lasten der Hersteller angewendet werden kann, dieser habe überhaupt HIV-kontaminiertes Faktor-VIIIKonzentrat vertrieben, sondern daß es auf den Nachweis eines konkreten Tatbeitrags gerade auch gegenüber dem Verletzten ankommt, ergibt sich aus der Entscheidung des BGH vom 5. 10. 1965.

In diesem Fall hatten zwei Viehzüchter in einem Sammeltransport Tiere aus Beständen geliefert, die von Maul- und Klauenseuche befallen waren, und zwar unter Verletzung der viehseuchengesetzlichen Bestimmungen. Bei Lieferung an eine Mästerei erkrankte infolge der Lieferung auch deren Bestand. Der BGH hat dort gesamtschuldnerische Haftung für den Schaden nach § 830 Abs. 1 S. 2 BGB angenommen, weil er beiden Züchtern die Verletzung viehseuchengesetzlicher Bestimmungen vorwerfen konnte: Gern. § 9 Abs. 1 ViehsG sind auch bei Ansteckung nur verdächtige Tiere von Orten fernzuhalten, an denen die Gefahr der Ansteckung fremder Tiere besteht. In der Begründung der Entscheidung wird das rechtspolitische Argument angeführt, eine Unklarheit der Verursachung, die dadurch entstehe, daß nicht nur einer, sondern mehrere an einem einheitlichen Lebensvorgang Beteiligte unerlaubt gehandelt haben, solle nicht zum Vorteil der Rechtsverletzer ausschlagen. Jedem Beteiligten müsse (nur, aber auch) die konkrete Gefährlichkeit gerade seines unerlaubten Verhaltens bewiesen werden. Es sei "gerechter, alle haften zu lassen, die sich an der gemeinschaftlichen Gefährdung schuldhaft beteiligt und möglicherweise jeweils den Schaden verursacht haben, als den Geschädigten wegen der durch die gemeinsame Gefährdung verursachten Beweisschwierigkeit leer ausgehen zu lassen".

Ausdrücklich wird erwähnt, daß beide Alternativschädiger "unter Verstoß gegen ein Schutzgesetz eine erhebliche Ansteckungsgefahr" gesetzt haben.

Weitere Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung, daß die selbständigen Handlungen "nach der praktischen Anschauung des täglichen Lebens einen zusammenhängenden Vorgang" bilden müssen, wobei die Gleichartigkeit der Gefährdung entscheide. Die Handlungen müssen tatsächlich miteinander verknüpft" sein, zwischen ihnen müsse ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang bestehen.

Es gehört daher zum schlüssigen Vortrag, genauestens zu sagen, wann welche Präparate im einzelnen verabreicht worden sind. Eine Haftung kann nur dann einsetzen, wenn einer der haftbaren Arzneimittelhersteller mit Gewißheit einen zu vertretenden Schaden verursacht hätte. Nur in diesem Bereich findet § 830 Abs. 1 S. 2 BGB unmittelbar Anwendung. Hat etwa ein Hämophiler Faktor VIII von verschiedenen Herstellern zu verschiedenen Zeiten erhalten, von denen einer - aus welchen Gründen auch immer - nicht haftet, trifft auch die anderen keine Gefährdungshaftung nach § 8,4 S. 2 Nr. 1 AMG (bzw. § 823 BGB).

Sofern jedoch ein - möglicherweise erster - Verursacher feststeht, haften auch spätere alternative Verursacher nicht über § 830 Abs. 1 S. 2 BGB.

2. Wenn es dem Geschädigten gelingt, gegebenenfalls durch Sachverständigengutachten oder unter Berücksichtigung der jeweiligen Zeitpunkte der Verabreichung der Medikamentierung die notwendigen Einzelheiten zum Inverkehrbringen einer kontaminierten Charge und den haftungsbegründenden Kausalzusammenhang zur eingetretenen Verletzung darzulegen und zu beweisen, sind die speziellen Haftungsvoraussetzungen des § 84 AMG zu prüfen. Spezielle Haftungsvoraussetzung des § 84 Nr. 1 AMG ist eine Nutzen-/Risiko-Abwägung. Die Haftung tritt nur dann ein, wenn die schädliche Wirkung des konkret applizierten Arzneimittels bei bestimmungsgemäßem Gebrauch über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgeht. Der Hersteller stand und steht für die Abwägung von Nutzen und Risiko i. S. des § 84 Abs. 1 nicht etwa individuell vor der Frage, ob der einzelne Geschädigte mit seinem Präparat behandelt werden soll (das ist Angelegenheit und Aufgabe des Arztes, der insoweit das sogenannte therapeutische Privileg genießt), sondern vor der allgemeinen Abwägungsfrage, ob das Medikament insgesamt vom Markt zurückgenommen werden soll oder nicht. Die Vertretbarkeitsabwägung kann deshalb nicht für die individuelle Anwendung eines einzelnen Falles vorgenommen werden. Aus § 5 AMG geht hervor, daß der Hersteller beim Inverkehrbringen und dementsprechend auch beim Belassen eines Medikaments auf dem Markt nicht auf die Einzelanwendung bei einem bestimmten Geschädigten abzustellen hat, wie dies der Arzt im Rahmen seiner Aufgaben tun muß, sondern daß aus der Sicht des Arzneimittelherstellers eine generelle und nicht eine individuelle Betrachtungsweise über die Frage entscheidet, ob es vertretbar ist, das Medikament weiterhin grundsätzlich einzusetzen. Die Güterabwägung zur Vertretbarkeit, die aus der Sicht des Herstellers zu entscheiden ist, muß davon ausgehen, ob bei Arzneimitteln grundsätzlich Neben- und Wechselwirkungen bei Einzelanwendungen in Kauf genommen werden oder ob das Medikament insgesamt vom Markt genommen werden muß. In die Gesamtabwägung muß eingehen, ob es eine indikation gibt, die die Anwendung des Medikaments erforderlich macht trotz der damit verbundenen Gefahren. In diesem Fall muß die Vertretbarkeitsabwägung dahin gehen, daß das Medikament auf dem Markt belassen wird.

Wenn es demgemäß nur eine einzige Indikation für das nicht inaktivierte Medikament gab, die die Anwendung des Präparats rechtfertigte, dann wäre es umgekehrt eine fehlerhafte Entscheidung des Arzneimittelherstellers gewesen, das Medikament seinerzeit insgesamt vom Markt zurückzuziehen mit allen damit verbundenen tödlichen Folgen für sämtliche betroffenen Hämophilen. Aus medizinischer Sicht ist zu entscheiden, ob der therapeutische Wert des Arzneimittels trotz der Gefährlichkeit überwiegt oder ob dies nicht mehr der Fall ist". Auch Kullmann stellt immer wieder ab auf etwa mögliche alternative Behandlungsmethoden, die aber dann tatsächlich auch als solche erkannt und verfügbar gewesen sein müssen. Wenn eine vitale Indikation bestand und das Risiko der Absetzung des Medikaments mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den baldigen Tod ungezählter Patienten zur Folge gehabt hätte, dann sind die schädlichen Wirkungen selbst eines kontaminierten Medikaments in Kauf zu nehmen gewesen.

Nach der herrschenden Meinung ist für die Beurteilung der speziellen Haftungsvoraussetzungen des § 84 Nr. 1 AMG und die dort anzustellende Nutzen-/Risiko-Relation auf zwei verschiedene Zeitpunkte abzustellen. Die herrschende Meinung vertritt die Auffassung, daß maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Schädlichkeit des Arzneimittels die letzte mündliche Verhandlung sei. Von diesem Zeitpunkt ist danach zu prüfen, ob und welche medizinischen Risiken und Folgen die Verabreichung eines bestimmten Medikaments gegebenenfalls nach sich zieht.

Diese Ex-post-Betrachtung gilt nach der herrschenden Meinung nicht uneingeschränkt.

Auch diejenigen Autoren, die für die Fragen des Risikos eines Arzneimittels auf den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abstellen, halten es für selbstverständlich, daß für die Frage, welche Behandlungsalternativen und sonstigen Möglichkeiten bestanden haben, nur das pharmazeutische Umfeld zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Medikaments entscheiden kann.

Der Kommentar zum AMG (Sander) führt dazu in den Erläuterungen zu § 84 AMG Anm. 14 ff. folgendes aus:

"Der Beurteilung von Fehlerhaftigkeit, Schädlichkeit und Vertretbarkeit (einer schädlichen Wirkung) ist die Situation zu bestimmten Zeitpunkten zugrunde zu legen:

a) Das einzelne Fertigarzneimittel muß bereits beim Inverkehrbringen durch den pharmazeutischen Unternehmer fehlerhaft gewesen sein. Beruhen die unvertretbar schädlichen

Wirkungen des Arzneimittels z. B. auf falscher Lagerung beim Einzelhändler, ist § 84 nicht anwendbar.

b) Für die Beurteilung der Schädlichkeit eines Arzneimittels ist der Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dem Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die Beurteilung erfolgt; im Prozeßfall demnach zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.

c) Die Beurteilung der Vertretbarkeit einer (nun bekanntgewordenen) schädlichen Wirkung ist jedoch aufgrund des Standes der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens der einzelnen Packung oder Charge des Arzneimittels vorzunehmen."

Kullmann sagt:

"Aus dem Sinn und der Zielrichtung des Gesetzes ... ergibt sich jedoch, daß auf jeden Fall die im Zeitpunkt der Beurteilung vorhandenen Erkenntnisse über die schädlichen Eigenschaften und Wirkungen eines Arzneimittels in die Abwägung eingehen müssen ...

Andererseits muß aber das spätere Wissen insofern auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens zurückprojiziert werden, als es das pharmazeutische Umfeld betrifft. Es muß also gefragt werden, ob die schädlichen Eigenschaften, wenn sie bekannt gewesen wären, bei dem sonstigen damaligen Arzneimittelangebot hätten in Kauf genommen werden dürfen. "

Mit anderen Worten: Ausgehend von der herrschenden Meinung muß eine zweistufige und zwei verschiedene Zeitpunkte berücksichtigende Prüfung durchgeführt werden.

Hinsichtlich der Schädlichkeit und der Folgen eines Arzneimittels und des damit verbundenen Risikos, ist abzustellen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung unter Beachtung der bis dahin gewonnenen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft. Zum anderen entscheidet aber über die Frage, ob und welche Alternativbehandlungen tatsächlich zur Verfügung standen, mithin, ob die Vertretbarkeit bei einer vitalen Indikation eines lebensnotwendigen und ersetzbaren Arzneimittels angesichts der damit verbundenen Folgen angenommen werden konnte oder nicht, das pharmazeutische Umfeld zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Medikaments. Ein Abstellen auch für alternative Behandlungsmethoden auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung würde grundsätzlich dazu führen, daß jegliche Weiterentwicklung eines Arzneimittels den Hersteller für "nebenwirkungsstärkere" Vorgängerpräparate haftbar machen würde. Das "bessere" Nachfolgepräparat würde in jedem Fall bei einem Vergleich alternativer Behandlungsmethoden zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zur Haftung für das Vorgängerpräparät führen. Dies hätte zur Folge, daß jegliche pharmazeutische Weiterentwicklung, die es zu irgendeinem späteren Zeitpunkt geben würde, die Haftung für zum Zeitpunkt der Inverkehrbringung (§ 5 AMG) vertretbare Arzneimittel auslösen würde. Es würde dann für jede negative Folge einer Arzneimittelanwendung gehaftet werden, vorausgesetzt, man würde mit der Geltendmachung des Anspruchs nur so lange warten, bis es ein "besseres" nebenwirkungsärmeres Arzneimittel gibt.

Daraus folgt:

Es muß im Einzelfall in bezug auf den in Frage kommenden Infektionszeitraum entschieden werden, ob ein schädliches Medikament unter Berücksichtigung seinerzeit realistischerweise möglicher Alternativen in vertretbarer Weise auf dem Markt belassen worden ist oder nicht.

Es geht also - gerade auch ausgehend von der herrschenden Meinung - nicht an, sich auf den Standpunkt zu stellen, heute sei nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen eindeutig, daß Anfang der 80er Jahre möglicherweise kontaminierte Faktor-VIII-Produkte die verheerenden Folgen der Aidserkrankung nach sich gezogen hätten, und andererseits sei dies ohne weiteres (oder höchstwahrscheinlich?) zu vermeiden gewesen, wie die heute eingesetzten inaktivierten Präparate zeigten. Vielmehr muß für die Frage, ob und welche Alternativtherapien damals tatsächlich zur Verfügung standen, überprüft werden, welche reale Handlungsmöglichkeit seinerzeit bestand.

3. Wenn man das pharmazeutische Umfeld aus der damaligen Sicht Anfang der 80er Jahre beurteilt, gehören dazu im einzelnen die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirksamkeit eines möglicherweise vorhandenen Alternativpräparats, dessen Anwendungsbreite sowie schließlich die Einbeziehung der Versorgungssituation der Hämophilen und die logistischen Probleme der Beschaffung des für die Herstellung notwendigen Blutplasmas.

a) Wenn man das pharmazeutische Umfeld im Sinne der herrschenden Meinung berücksichtigt, ist zu fragen, ob

aa) den Hämophilen tatsächlich, technisch und wissenschaftlich unter Berücksichtigung der damals bestehenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse ein alternatives ebenso lebensrettendes (inaktiviertes) Präparat zur Verfügung stand oder aus damaliger Sicht hätte verfügbar gemacht werden können,

bb) es gegebenenfalls bei realistischer Betrachtungsweise durchsetzbar war, daß dem einzelnen betroffenen Hämophilen das nur in sehr begrenztem Umfang auf dem Markt befindliche Alternativpräparat zur Verfügung zu stellen.

b) Um das seinerzeitige pharmazeutische Umfeld und die Situation der Hämophilen zu verdeutlichen, muß man sich in den Kenntnis- und Informationsstand Anfang der 80er Jahre versetzen.

Ein hitzeinaktiviertes Alternativpräparat eines Herstellers war auf dem Markt, wurde aber ausschließlich bei sogenannten "virgins", also Hämophilen, die keinerlei andere Präparate bekommen hatten und bei denen man damit rechnen konnte, daß sie noch keine Hepatitisinfektion gehabt hatten, eingesetzt. Diese Indikationen waren einerseits die Folge mangelnder Verfügbarkeit, spiegelten auf der anderen Seite aber auch den damaligen Kenntnisstand betreffend die Nutzen-Risiko-Relation der zum damaligen Zeitpunkt verfügbaren Präparate wider.

Der Hersteller selbst ging anhand vorklinischer Daten davon aus, daß das hitzeinaktivierte Alternativpräparat des Herstellers den Hepatitis-B-Erreger inaktiviert. Dem Hersteller wie auch der Fachwelt war und ist bekannt, daß sich die Virussicherheit letztlich erst langfristig anhand von Beobachtungsstudien nach Zulassung des Präparats zeigen kann.

Bezüglich des viralen Erregers der Hepatitis Non-A-Non-B konnten die Hersteller Anfang der 80er Jahre keine Aussagen über dessen Inaktivierung machen, da Modellviren dieses Virus nicht zur Verfügung standen. Eine weiter gehende Aussage, daß auch unbekannte virale Erreger, und zu diesen gehört der Erreger Hepatitis Non-A-Non-B, gleichfalls inaktiviert werden, konnte nicht gemacht werden. Dies galt erst recht für den noch unbekannten Erreger von Aids, der noch nicht einmal als Virus identifiziert war.

Vor Zulassung des inaktivierten Präparats lag lediglich eine klinische Studie zur Hepatitissicherheit vor. Beobachtet wurden 12 Patienten, die bei Beginn der Studie noch keine Hepatitis durchgemacht hatten und von denen keiner eine Hepatitis B entwickelte. Aussagen zum Übertragungsrisiko einer Hepatitis Non-A-Non-B konnten nicht gemacht werden, da entsprechende Tests (Leberbiopsien) nicht durchgeführt wurden. Aufgrund der vorgenannten Studie und der Schimpansenversuche mit dem Präparat wurden Hepatitis-B-Übertragungen ausgeschlossen.

Ergebnisse einer ersten Langzeitstudie konnten eine Übertragung der Hepatitis Non-A-Non-B in 6 von 31 beobachteten Fällen nicht ausschließen. Dazu ist anzumerken, daß diese Studie nicht den später entwickelten ICTH-Kriterien entsprach, so daß eine Übertragung in weiteren Fällen mangels engmaschiger Kontrolle der Probanden nicht ausgeschlossen werden konnte. Dies wird bestätigt durch eine Publikation von Manucci und Colombo (1988), die nachwiesen, daß nur bei engmaschiger Beobachtung der Patienten einer Kontrollgruppe ausgeschlossen werden kann, daß Hepatitis-Non-A-NonB-Übertragungen auftreten.

Für die Fachwelt war die Überlegenheit des hitzeinaktivierten Alternativpräparats des einen Herstellers Anfang der 80er Jahre demgemäß keineswegs dargetan. Eine Anwendung dieses Präparats war daher vertretbar bei sogenannten "virgins", die noch nicht gegen Hepatitis B immunisiert waren.

Erst 1987 wurden Ergebnisse einer groß angelegten internationalen Multicenterstudie veröffentlicht, bei denen weder Hepatitis-B- noch Hepatitis-Non-A-Non-B-Übertragungen mit dem frühen hitzeinaktivierten Präparat berichtet wurden.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, daß der Hersteller für das Präparat die Bezeichnung "hs" zunächst als "hepatitis-sicher" in Anspruch nehmen wollte. Gerade aufgrund ungenügender Aussagen zur Inaktivierung des Hepatitis-Non-A-Non-B-Erregers wurde dies vom Bundesgesundheitsamt (BGA) jedoch zurückgewiesen, so daß die Bezeichnung "hs" nunmehr für "hitzesterilisiert" verwendet wurde.

Im übrigen bestanden von wissenschaftlicher Seite sehr lange erhebliche Bedenken gegen Hitzeinaktivierungsverfahren im allgemeinen. Noch im Januar 1985 äußerten Bird et al. erhebliche Bedenken gegen Hitzeinaktivierungsverfahren, da eine lebensgefährliche Proteindenaturierung und eine irreversible Bildung von Inhibitoren zu befürchten waren. (Die Inhibitorenbildung führt dazu, daß bei Hämophilen die weitere Behandlung mit Gerinnungskonzentraten nicht mehr anschlägt.)

International zeigten sich diese Bedenken besonders im Verhalten der jeweiligen Zulassungsbehörden. In Japan wurden hitzeinaktivierte Präparate erst nach umfangreichen klinischen Prüfungen 1986 zugelassen, in England erst 1985, in Spanien im Frühjahr 1986.

c) Wenn man demgemäß das pharmazeutische Umfeld im Sinne der herrschenden Meinung beurteilt, geht es nicht an, sich einfach auf den Standpunkt zu stellen, daß gerade für den einen Geschädigten im Prozeß notfalls ein hitzeinaktiviertes Alternativpräparat eines Herstellers immer noch gerade ausreichend zur Verfügung gestanden hätte. Vielmehr muß man die allgemeine Versorgungssituation der Hämophilen, die logistischen Probleme bei der Beschaffung des für die Herstellung erforderlichen Plasmas und die seinerzeit vertretene Auffassung zum Einsatz des Präparats nach dem damaligen pharmazeutischen Umfeld betrachten.

Es bestand keine Möglichkeit, alle Hämophilen (nicht einmal alle Patienten, die an mittelschwerer und schwerer Hämophilie oder Hemmkörperhämophilie litten) mit hitzebehandelten Präparaten zu versorgen, denn

- zu jener Zeit und lange Zeit danach standen nie ausreichend hitzebehandelte Alternativpräparate zur Verfügung, um auch nur 5 % der deutschen Hämophilen ausreichend versorgen zu können;

- der erforderliche Bedarf von über 200 Mio. Einheiten von hitzebehandelten Präparaten pro Jahr hätte in der Bundesrepublik Deutschland bei weitem nicht befriedigt werden können; weder standen ausreichend Plasma noch die erforderlichen Produktionskapazitäten zur Verfügung;

- das Verfahren der Firma, die 1981 ein hitzeinaktiviertes Präparat auf den Markt gebracht hat, führte zu einer weit geringeren Ausbeute des Ausgangsmaterials Plasma mit der Folge, daß angesichts weltweit beschränkter Verfügbarkeit des Rohstoffs weitaus weniger Bluter hätten behandelt werden können, wenn dieses Verfahren von allen Herstellern angewandt worden wäre.

Wie anhand des damaligen pharmazeutischen Umfelds der Einsatz möglicherweise kontaminierter Produkte sogar noch zu einem Zeitpunkt, zu dem das Aidsvirus bereits erkannt war, beurteilt wurde, ergibt sich am besten aus den Stellungnahmen der Organisationen der Bluter selbst und des BGA.

So wird in der Fachzeitschrift des Vereins zur Beratung bei Blutungskrankheiten e. V. (Bluterberatung) vom Februar 1984 auch ausdrücklich als Empfehlung für die Hämophilen durch deren eigene Organisation ausgeführt:

"Für den Bluter ist eine Einschränkung der Behandlung durch eine Einschränkung der Versorgung eine wesentlich realere Gefahr als eine mögliche Aidsinfektion."

Entsprechend verlief auch die allgemeine wissenschaftliche Diskussion in den 80er Jahren. Im Juni 1983 kam es zum ersten Rundtischgespräch über Aids und Hämophile. Bei den Verhandlungen des 14. Hämophilie-Symposions im Oktober 1983 kam der Sachverständige Landbeck zu folgender zusammenfassender Feststellung:

"Abschließend möchte ich bei allen Verunsicherungen, die wir im Augenblick zu tragen haben mit dem Hinweis, daß die Hochkonzentrattherapie der letzten 12 bis 14 Jahre für den Hämophilen einen Durchbruch zu einer annähernd normalen Lebenszeiterwartung, zu einer weitgehenden Verhütung schwerer bleibender Körperbehinderungen und damit auch zu einer vollen sozialen Eingliederung gebracht hat. Diese Erfolge, die auch heute noch höher zu gewichten sind als die bekannten oder befürchteten Risiken der Hochkonzentrattherapie, sollten Anlaß genug sein, bei voller Nutzung aller Möglichkeiten, die das Behandlungsrisiko vermindern können, keine Einschränkungen in dem bislang als lebensnotwendig erkannten Maß an Substitutionsmittelbedarf vorzunehmen, denn wer wollte schon aus einem überwiegend gut fahrenden Zug abspringen."

Dem entspricht es, daß das BGA am 15. 6. 1985 die Empfehlungen einer vom Präsidenten des BGA berufenen Ad-hoc-Kommission veröffentlicht hat, die im Ergebnis zu dem Schluß gekommen ist, daß es keinen Anlaß zur Änderung der eingeschlagenen Therapie mit den auf dem Markt vorhandenen nicht inaktivierten Gerinnungspräparaten gebe. Beginnend ab November 1983 hat das BGA ein Stufenplanverfahren durchgeführt, in dessen Rahmen sämtliche seinerzeitigen Erkenntnisse der Wissenschaft berücksichtigt und bewertet worden sind. Dieses Verfahren wurde im Jahre 1985 abgeschlossen. Unter Berücksichtigung allen damals verfügbaren Wissens hat sich das BGA im Zusammenhang mit dem Abschluß dieses Verfahrens nicht dazu entschlossen, ein Virusinaktivierungsverfahren für Faktor-VIII-Konzentrate vorzuschreiben. Erst zum 1. 10. 1985 hat das BGA ein "screening" (also ein Testen) der Spender als Maßnahme der Produktsicherheit gefordert.
Angesichts dieser rechtlichen und tatsächlichen Situation muß eine nach den Kriterien der herrschenden Meinung durchgeführte Vertretbarkeitsprüfung i. S. des § 84 Nr. 1 AMG zu dem Ergebnis kommen: Ein kontaminiertes Präparat ist auch aus damaliger Sicht angesichts des pharmazeutischen Umfelds in Kauf zu nehmen gewesen. Der pharmazeutische Unternehmer würde - mit anderen Worten - auch heute noch angesichts der lebensnotwendigen Versorgung der Hämophilen mit entsprechenden Konzentraten nicht inaktivierte Präparate für vitale Indikationen zur Verfügung stellen, selbst wenn das Risiko, daß diese HIV-kontaminiert sind, sehr hoch ist, vorausgesetzt, daß es keine erkannte und verfügbare Alternativbehandlung im maßgeblichen Zeitpunkt gab.

Für die Geltendmachung der Ansprüche nach § 84 Nr. 1 AMG im Rahmen der gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland anhängigen Prozesse insbesondere der Kassen dürfte daraus der Schluß zu ziehen sein, daß eine für den Hersteller negative Vertretbarkeitsprüfung frühestens ab flächendeckender Verfügbarkeit eines hitzeinaktivierten Alternativpräparats bejaht werden könnte. Dieser Zeitraum dürfte nicht vor Ende 1984 liegen.

11. § 823 Abs. 1 BGB

Zu prüfen ist die Haftung des pharmazeutischen Unternehmers nach § 823 Abs. 1 BGB.

1. Die Produkthaftung nach § 823 BGB setzt unabdingbar das Vorliegen eines Fehlers voraus. Anders als im Bereich des AMG ist der Fehler so zu definieren, daß das Produkt nicht die Eigenschaften aufweisen darf, die ein durchschnittlicher Verbraucher der entsprechenden Ware auch unter Berücksichtigung der hierfür aufzuwendenden Kosten - in bezug auf deren Sicherheit erwarten kann. Dabei sind die maßgeblichen Vorstellungen des durchschnittlichen Verbrauchers in einem ständigen Wandel begriffen; es kann unter Umständen schwer sein, genau abzugrenzen, wenn bestimmte Erwartungen Communis opinio werden. Hierfür kommt es immer auf die Erwartung des Verbrauchers unter Berücksichtigung der jeweiligen wissenschaftlichen und medizinischen Erkenntnisse bezogen auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens eines Produkts an.

Es gibt keine absolute Garantie dafür, daß Faktor-VIII-Produkte, die aus menschlichem Plasma gewonnen werden, von absoluter Reinheit (Virusfreiheit) sind. Wenn solche - lebensnotwendigen - Gerinnungspräparate zur Behandlung Hämophiler unter Berücksichtigung aller Erkenntnisse des Standes von Medizin und Wissenschaft mit einem nicht erkennbaren Virus kontaminiert sind, macht das das Präparat nicht eo ipso fehlerhaft. Es ist anerkannt, daß im Rahmen der Produkthaftung nach § 823 Abs. 1 BGB der Stand von Wissenschaft und Erkenntnis maßgebend ist, der zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens gilt. Gerade auf dem Gebiet des AMG sorgt das materielle Zulassungsverfahren dafür, daß der jeweilige Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens eingehalten ist. Darüber hinaus kennt das AMG als besonderes Überwachungsverfahren für pharmazeutische Erzeugnisse das Stufenplanverfahren, das auch hier durchgeführt worden war (§ 63 AMG). Dieses Verfahren hält den jeweiligen Erkenntnisstand der Wissenschaft fest. Erst die Erkennbarkeit eines Risikos kann Verpflichtungen des Herstellers im Sinne der Produktsicherung oder der Gefahrenabwendung auslösen. Eine nicht bekannte Entwicklungsgefahr geht im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB nicht zu Lasten des Herstellers oder Vertreibers; es besteht also keine Haftung für sogenannte Entwicklungsfehler.

Erst die Erkennbarkeit und Vermeidbarkeit der fehlerhaften Entwicklung kann deshalb den Haftungstatbestand des § 823 Abs. 1 BGB auslösen. Das Aidsvirus wurde erst im Mai 1984 endgültig identifiziert. Erst im Laufe des Jahres 1985 wurde der Antikörpertest (Eliza) verfügbar. Die Labortestung der Spenderplasmen wurde für alle europäischen und US-Plasmen seit Mai 1985 durchgeführt.

Für die Haftung aus § 823 Abs. 1 BGB und eine mögliche Entlastung des Herstellers nach § 831 BGB ist daraus zu folgern: Erst nach Entdeckung und Isolierung des Aidsvirus, nach flächendeckender Verfügbarkeit des Antikörpertests und nach dem Vorhandensein und der Verfügbarkeit eines Alternativpräparats kommt eine Haftung des Herstellers in Betracht. Für diese Fälle hat der Hersteller dann darzulegen, daß er alles unternommen hat, was in diesem Zusammenhang zur Erhöhung der Sicherheit von aus Spenderplasmen hergestellten Produkten überhaupt getan werden konnte.

2. Es fragt sich, ob die Geschädigten bzw. die Kassen gegebenenfalls Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB durchsetzen können.

§ 5 AMG ist zweifellos ein Schutzgesetz i. S. des § 823 BGB. Dieser Haftungstatbestand bessert die Situation des Geschädigten jedoch gegenüber den bereits geprüften Anspruchsgrundlagen keineswegs: Nach dieser Vorschrift haftet der Hersteller nur dann, wenn er bedenkliche Arzneimittel in den Verkehr bringt, bei denen nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ein begründeter Verdacht besteht. Anders als im Rahmen des § 84 Nr. 1 AMG ist daher nicht retrospektiv auf die zwischenzeitlich gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen, sondern auf diejenigen, die zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens bestanden. Danach ist eine Haftung aus den geschilderten Gründen in aller Regel aus diesem Tatbestand zu verneinen. Für den Beginn der dreijährigen Verjährungsfrist, die sowohl nach § 90 AMG als auch nach § 852 BGB gilt, kommt es auf die Kenntnis des Ersatzberechtigten vom Schaden, den Umständen, aus denen sich die Anspruchsberechtigung ergibt, und der Person des Ersatzpflichtigen an.

Soweit die Kassen klagen und damit auf sie gesetzlich übergegangene Forderungen (§§ 116, 119 SGB X) geltend machen, entscheidet allein die Kenntnis des im Vorfallszeitpunkt leistungspflichtigen Soziaiversicherungsträgers (SVT) zum Grund des Ersatzanspruchs. In solchen Fällen, in denen sich der gesetzliche Forderungsübergang innerhalb der logischen Sekunde im Zeitpunkt der Infektion gewissermaßen durch den Verletzten hindurch vollzieht, kommt es nicht auf den Zeitpunkt an, in dem der eintrittspflichtige SVT Leistungen erbringt. Erforderlich und genügend für den Rechtsübergang ist die bloße, wenn auch nur "entfernte" Möglichkeit, daß der zuständige SVT aus Anlaß des Vorfalls einmal leistungspflichtig werden könnte. Es entscheidet in diesen Fällen also der Zeitpunkt, zu dem der zuständige Sachbearbeiter, der gegebenenfalls auf Nachfrage von der Kasse zu benennen ist, von der Möglichkeit einer HIV-Infektion durch Verabreichung eines Präparats gerade des betroffenen Herstellers Kenntnis erlangt hat. Dieser Tatbestand wird in der Regel erfüllt sein, wenn der Kasse Berichte der behandelnden Ärzte über die Verabreichung von Medikamenten und der Behandlung eines HIV-Erkrankten unter Angabe der im einzelnen verabreichten Präparate mit Angabe der Hersteller zugegangen sind.

3. Wenn der Geschädigte oder die Kasse, die seine Aufwendungen erstattet hat, die in den einzelnen Fällen äußerst schwer zu nehmende Hürde der positiven Haftungsvoraussetzungen überwunden hat, ist die Frage zu klären, ob der geltend gemachte Schaden tatsächlich adäquat kausal durch die Infektion bedingt ist oder ob es sich nicht um Behandlungskosten handelt, die mit der Erkrankung selber zusammenhängen. In einer Reihe von Prozessen ist festzustellen, daß von seiten der Kassen Heilbehandlungskosten geltend gemacht werden, die mit der ursprünglichen Erkrankung zusammenhängen und damit in keinem Fall durch eine potentielle HIV-Infektion verursacht sein können.

Ein besonders schwieriges Problem stellt sich in diesem Zusammenhang unter dem Gesichtspunkt der Vorteilsanrechnung und ersparten Aufwendungen. Es wird zwar der Grundsatz vertreten, daß der Ersatzanspruch eines Geschädigten durch die Leistungen des Legalzessionars nicht berührt werden darf und deshalb in diesem Anwendungsbereich eine Vorteilsausgleichung ausgeschlossen sei. Dieser Grundsatz besagt aber lediglich, daß dem Geschädigten durch die Leistungen des Legalzessionars nach dem Sinn der Legalzession kein Vorteil angerechnet werden darf.

Damit ist nicht ausgeschlossen, daß der SVT selber sich auf den übergegangenen Anspruch die für das Schadensereignis eingetretenen Vorteile als ersparte Aufwendungen abziehen lassen muß. Auf die tatsächlich angefallenen Heilbehandlungskosten hat sich deshalb die Kasse die Kosten anrechnen zu lassen, die sie hypothetisch hätte aufwenden müssen, wenn der Geschädigte nicht wegen einer Aidsinfektion, sondern wegen seiner Bluterkrankheit hätte weiterbehandelt werden müssen. Die Behandlung eines mittelschweren bis schweren Hämophilen erfordert den Einsatz von rd. 100 000 Einheiten Faktor-VIII-Konzentrat zur Behandlung pro Jahr. In den besonders schweren Fällen der Hemmkörperhämophilie erfordert die Behandlung bis zu 1 Mio. Einheiten pro Jahr.

Das hitzeinaktivierte Präparat eines deutschen Herstellers, das 1981 entwickelt worden war und nur bei solchen Patienten eingesetzt wurde, die noch keine Hepatitis durchgemacht hatten, kostete ungefähr doppelt soviel wie die nicht inaktivierten Präparate. Wenn also im Einzelfall die mangelnde Vertretbarkeit der Verabreichung eines nicht inaktivierten Präparats nach § 84 Nr. 1 AMG bejaht wird mit der Begründung, es habe ein hitzeinaktiviertes Alternativpräparat zur Verfügung gestanden, ist es konsequent, im Rahmen der Vorteilsausgleichung zu bedenken, welche Kosten die Kassen dadurch erspart haben, daß das hitzeinaktivierte Präparat nicht verabreicht worden ist. Diese Anrechnung ist auch nicht nach § 242 BGB ausgeschlossen. Denn die Krankenkassen haben seinerzeit nachhaltig darum gekämpft, die Versorgung von Bluterkrankheiten auf möglichst kostensparende Weise zu organisieren. Angesichts des seinerzeitigen pharmazeutischen Umfelds hätten sie die Behandlung mit hitzeinaktivierten Präparaten für normale Bluterkranke, die in der Regel die Hepatitisinfektion schon durchgemacht hatten, nicht bezahlt. Es verstößt daher von seiten der in Anspruch genommenen Pharmazieunternehmen nicht gegen § 242 BGB, wenn diese sich nunmehr auf ersparte Aufwendungen auf seiten der Kassen berufen und sich damit im Rahmen des Begriffs der ersparten Aufwendungen bzw. der Vorteilsanrechnung eines wirtschaftlichen Arguments bedienen, das die Kassen selbst seinerzeit mit Nachdruck verfochten haben.

Es wird also im Ergebnis stets zu prüfen sein, weiche Kosten von den Kassen dadurch erspart worden sind, daß die deutlich teureren hitzeinaktivierten Präparate nicht verabreicht worden sind. Außerdem ist eine hypothetische nachträgliche Prognose darüber anzustellen, welche zusätzlichen Heilbehandlungskosten im Falle einer Verabreichung hitzeinaktivierter Präparate gegenüber den tatsächlich aufgewendeten Heilbehandlungskosten angefallen wären und durch die jetzt durchgeführte Behandlung erspart worden sind.

III. Zusammenfassung

Zusammenfassend ist festzustellen, daß die Durchsetzung von Ansprüchen der Geschädigten bzw. der Krankenkassen gegen die pharmazeutischen Unternehmen, die die Gerinnungspräparate herstellen, im Zusammenhang mit möglicherweise Anfang der 80er Jahre aufgetretenen HIV-Infektionen mit äußersten Schwierigkeiten und Risiken behaftet ist. So berechtigt auch das Anliegen ist, den geschädigten Hämophilen zu helfen, so sehr darf auf der anderen Seite jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß die Geltendmachung von Ansprüchen gegen die beteiligten Arzneimittelhersteller sich an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 84 Nr. 1 AMG und der aus § 823 Abs. 1 BGB entwickelten Produkthaftung zu halten hat. Hierbei darf insbesondere nicht verkannt werden, daß § 84 Nr. 1 AMG keine Garantiehaftung statuiert, sondern eine durch die Vertretbarkeitsprüfung nach § 84 Nr. 1 AMG ganz wesentlich eingeschränkte Gefährdungshaftung, in deren Rahmen der Hersteller weder für Entwicklungsgefahren zu haften hat (also nicht dafür, daß später ein besseres Produkt auf den Markt gebracht werden kann) noch für unerkennbare und unvermeidbare Risiken.