jurisPR-BGHZivilR 4/2014 Anm. 4

Schicksal einer Widerklage bei Berufungszurückweisung durch einstimmigen Beschluss

BGH 3. Zivilsenat, Urteil vom 24.10.2013 - III ZR 403/12
Dr. Barbara Genius, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof

Leitsatz
Wird die den erstinstanzlichen Streitgegenstand betreffende Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen, verliert eine im Berufungsverfahren erhobene Widerklage entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung.

A. Problemstellung
Welche Rechtsfolgen hat es für eine (erst) in zweiter Instanz erhobene (Hilfs-)Widerklage, wenn die gegen das erstinstanzliche Urteil gerichtete Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO durch einstimmigen Beschluss zurückgewiesen werden soll? Die Besprechungsentscheidung klärt, wie diese in der ZPO ausdrücklich nicht geregelte Frage zu beantworten ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin hatte mit ihrer Klage auf quotale Zahlung wegen Darlehensforderungen Dritter obsiegt. Gegen die Klage hatten sich die mit der Klägerin durch Treuhandvertrag verbundenen Beklagten hilfsweise durch Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen verteidigt. Mit ihrer Berufung erhoben die Beklagten erstmals Hilfswiderklage für den Fall, dass die von ihnen hilfsweise erklärte Aufrechnung unzulässig sein sollte. Die Klägerin legte Anschlussberufung ein.

Das Berufungsgericht wies mit einstimmigem Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO die Berufung der Beklagten zurück und erklärte darin die Anschlussberufung der Klägerin sowie die Hilfswiderklage der Beklagten für wirkungslos.

Auf die gegen den Beschluss gemäß § 522 Abs. 3 ZPO gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hat der BGH die Revision der Beklagten zugelassen. Mit der Revision haben die Beklagten ihre Hilfswiderklage weiter verfolgt. Die Revision ist im Ergebnis ohne Erfolg geblieben.

Der III. Zivilsenat bestätigt in seiner Entscheidung den Beschluss des Berufungsgerichts, wonach die Hilfswiderklage mit der Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO ihre Wirkung analog § 524 Abs. 4 ZPO verloren hat.

C. Kontext der Entscheidung
Mit der am 01.01.2002 in Kraft getretenen Zivilprozessreform wurde die Möglichkeit geschaffen, eine unbegründete Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen (§ 522 Abs. 2 ZPO). Die Rechtspraxis war – wie die in der Besprechungsentscheidung zitierten Instanzurteile seit 2003 zeigen – alsbald mit der Frage konfrontiert, ob einer Anwendung des § 522 Abs. 2 ZPO entgegensteht, wenn die Berufung mit einem eigenständigen Angriff des Berufungsklägers, z.B. Klageerweiterung oder Widerklage, verbunden wird.

Zwei Auffassungen hatten sich herausgebildet: Überwiegend wurde vertreten, mit dem Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO werde eine zweitinstanzlich erhobene Widerklage, eine zweitinstanzliche Klageerweiterung und ein zweitinstanzlicher Hilfsantrag entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO wirkungslos. Gemäß dieser Vorschrift verliert die Anschlussberufung des Berufungsbeklagten ihre Wirkung, wenn die Berufung durch Beschluss zurückgewiesen wird. Nach anderer Auffassung ist von einer Wirkungslosigkeit des eigenständigen neuen Angriffs des Berufungsklägers nicht auszugehen und kann ggf. unter dessen Einbeziehung gleichwohl die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen werden.

Der BGH referiert in seiner Entscheidung die bisher vertretenen Auffassungen (Rn. 8 f.) und schließt sich mit ausführlicher Begründung für den Fall einer erst in zweiter Instanz erhobenen Widerklage der erstgenannten Auffassung an (Rn. 19 ff.).

Wie diese konstatiert das Urteil im Ausgangspunkt das Vorliegen einer Regelungslücke. Die prozessuale Situation einer erst in zweiter Instanz erhobenen Widerklage bei gleichzeitig offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht der gegen das Ersturteil gerichteten Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO sei in der ZPO nicht geregelt. Insbesondere lasse sich dem Begriff der „Berufung“ in § 522 Abs. 2 ZPO – so (Rn. 21) entgegen anderer Auffassung (vgl. Rn. 15) – nicht entnehmen, ob er sämtliche im Berufungsverfahren gestellten Sachanträge und damit auch deren Streitgegenstand erweiternde Widerklageanträge i.S.d. § 533 ZPO umfasse oder nur das Rechtsmittel gegen das Ersturteil meint, soweit es den Berufungskläger beschwert. Zur Frage der für eine Analogie vorausgesetzten Planwidrigkeit der Regelungslücke (vgl. BGH, Urt. v. 14.12.2006 - IX ZR 92/05 - BGHZ 170, 187 Rn. 15, m.w.N.) verweist der BGH unter Heranziehung der Gesetzesbegründung auf den Normzweck des § 522 Abs. 2 ZPO sowie die Interessenlage (Rn. 25, 26): Mit der Beschlusszurückweisung solle verhindert werden, dass durch Berufungen, die nach Überzeugung des Berufungsgerichts keine Aussicht auf Erfolg haben, richterliche Arbeitskraft unnötig gebunden, die für verhandlungsbedürftige Fälle benötigte Terminzeit verkürzt und die rechtskräftige Erledigung der Streitigkeit zulasten der in erster Instanz obsiegenden Partei verzögert wird (vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 97). An dieser Zielsetzung habe der Gesetzgeber ungeachtet der zwischenzeitlichen Änderung des § 522 ZPO, welche die rechtspolitisch höchst umstrittene Unanfechtbarkeit der Entscheidung beseitigt hat (§ 522 Abs. 3 ZPO n.F.), festgehalten (vgl. BT-Drs. 17/6406, S. 8). Zugleich sei die Berufungsinstanz funktionell zu einem Instrument vornehmlich der Fehlerkontrolle umgestaltet worden (vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 1, 58, 61, 97, 101 f.). Damit nicht vereinbar wäre, wenn in die Prüfung der Erfolgsaussichten gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO auch die Frage einbezogen würde, ob eine zweitinstanzlich erhobene, nach § 533 ZPO zulässige Widerklage begründet ist (Rn. 27). Insbesondere würde es – so der Senat – der Intention des Gesetzgebers widersprechen, wenn der Berufungskläger mit einer gegebenenfalls geringfügigen (Hilfs-)Widerklage eine mündliche Verhandlung über die gesamte Berufung erzwingen könnte, obwohl Letztere in Bezug auf die erstinstanzliche Beschwer des Berufungsklägers keine Aussicht auf Erfolg bietet. Das Anliegen, offensichtlich aussichtslose Berufungen im Beschlussweg zurückzuweisen, liefe leer.

Die vom Senat angeführten Gründe sind nicht neu. Deutlich ist jedoch die Positionierung, dass Normzweck und Interessenlage nur gewahrt werden bei Annahme einer Wirkungslosigkeit der mit der Berufung erstmals erhobenen (Hilfs-)Widerklage. Der Senat führt die rechtlichen Konsequenzen ohne diese Annahme an: Gegebenenfalls wäre bei Vorliegen der Voraussetzungen über die Berufung im Wege eines Teilbeschlusses nach § 522 Abs. 2 ZPO und über die Widerklage nur nach mündlicher Verhandlung mittels Schlussurteil zu entscheiden. Nicht nur müsse damit doch über einen Teilgegenstand mündlich verhandelt werden. Es könne der Berufungskläger unter Bestreiten der – regelmäßig nicht unproblematischen – Voraussetzungen eines Teilurteils in solchen Fällen erheblichen Druck mit dem Ziel der Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die gesamte Berufung ausüben, die jedoch in Bezug auf die erstinstanzliche Beschwer offensichtlich aussichtslos sei. Dies widerspräche der gesetzgeberischen Intention, in derartigen Fällen mit der Beschlusszurückweisung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO im öffentlichen Interesse wie im Interesse des Berufungsbeklagten eine Möglichkeit zur zügigen Beendigung des Berufungsverfahrens zur Verfügung zu stellen (Rn. 28, 29). Der Senat übersieht dabei nicht, dass es sich bei der in § 524 Abs. 4 ZPO geregelten Anschlussberufung um ein unselbstständigen Rechtsmittel handelt, verweist jedoch darauf, dass sich auch deren Zulässigkeit und Wirkung aus der ohnehin anlässlich der (Haupt-)Berufung stattfindenden Befassung des Berufungsgerichts mit dem maßgeblichen Streitstoff in der mündlichen Berufungsverhandlung ableite (Rn. 31). Angesichts der vergleichbaren systematischen Zusammenhänge, in die Anschlussberufung und zweitinstanzliche Widerklage eingebettet seien, erscheine es folgerichtig, beide – ungeachtet ihrer unterschiedlichen Prozessziele – gleich zu behandeln, wenn mit dem Wegfall des Erfordernisses einer mündlichen Verhandlung über die (Haupt-)Berufung zugleich auch die Grundlage für die Einbeziehung von Anschlussberufung und (zweitinstanzlicher) Widerklage in das Berufungsverfahren entfällt. Eine zweitinstanzlich erhobene Widerklage verliert daher entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung, wenn die den erstinstanzlichen Streitgegenstand betreffende Berufung durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen wird (Rn. 33).

D. Auswirkungen für die Praxis
Auch für andere eigenständige Angriffe des Berufungsklägers als die (Hilfs-)Widerklage dürfte nun unter Berücksichtigung der Entscheidung des III. Zivilsenates gelten, dass sie analog § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung verlieren, wenn die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen wird. Diese Rechtsfolge entlastet sicher die Rechtspraxis, indem sie Verzögerungen und ggf. schwierige Abgrenzungen vermeidet. Die Möglichkeit einer überschießenden Wirkung der Weichenstellung in der Besprechungsentscheidung dahin, dass die Berufungsgerichte versucht sein könnten, die Berufung im Wege des § 522 Abs. 2 ZPO zu bescheiden, um einer Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit den Berufungsgegenstand erweiternder eigenständiger Angriffe des Berufungsklägers zu entgehen, dürfte freilich auch nicht ganz von der Hand zu weisen sein.