jurisPR-BGHZivilR 21/2011 Anm. 3

Unzulässige Beweiserhebung über die Frage der Erteilung eines richterlichen Hinweises

BGH 9. Zivilsenat, Beschluss vom 30.06.2011 - IX ZR 35/10
Dr. Barbara Genius, Rechtsanwältin beim Bundesgerichtshof

Orientierungssatz zur Anmerkung
Ein richterlicher Hinweis, der nicht aktenkundig gemacht worden ist, gilt gemäß § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO als nicht erteilt. Es darf daher kein Beweis erhoben werden zu der Frage, ob die Vorinstanz einen Hinweis erteilt hat.

A. Problemstellung
Gemäß § 139 Abs. 4 Satz 1 HS. 2 ZPO sind richterliche Hinweise aktenkundig zu machen. Ihre Erteilung kann nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden, § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO; gegen den Inhalt der Akten ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig, § 139 Abs. 4 Satz 3 ZPO.

Die besprochene Entscheidung befasst sich mit den Rechtsfolgen der in § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO angeordneten Beweisregel.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin war Eigentümerin eines Grundstücks mit aufstehender Bimssteinfertigungsanlage. Beides wollte sie verkaufen. Sie beauftragte den Beklagten zu 3) als Makler. Dem Beklagten zu 1), einem Rechtsanwalt, erteilte sie wenig später „Handlungsvollmacht sowie Verhandlungsvollmacht“ mit der Einschränkung, dass „bei entsprechenden Kaufangeboten [...] Zustimmung nur in Absprache“ mit ihr erfolgen dürfe. Am 31.01.2006 veräußerte die Klägerin – vertreten durch den Beklagten zu 1) – die Anlage für 30.000 Euro an ein kasachisches Unternehmen, das der Beklagte zu 2) vertrat.

Der Beklagte zu 1) habe – so die Klägerin – die Anlage ohne ihre Zustimmung zum Preis von 30.000 Euro verkauft, obwohl er den wesentlich höheren Wert der Anlage und die gleichfalls höhere Kaufpreisvorstellung der Klägerin gekannt habe. Alle drei Beklagten hätten kollusiv zusammengewirkt, um sie zu schädigen.

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hatte die Berufung zurückgewiesen mit der Begründung, es sei aufgrund der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme überzeugt, dass das Landgericht die Klägerin darauf hingewiesen habe, sie sei nunmehr darlegungs- und beweispflichtig für ihre Behauptung, der Beklagte zu 1) habe den Kaufvertrag ohne ihre ausdrückliche Zustimmung abgeschlossen. Das dahingehende, erstmals im Berufungsrechtszug geltend gemachte Vorbringen und Beweisangebot der Klägerin sei gemäß § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückzuweisen.

Der BGH hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin die Revision zugelassen und gemäß § 544 Abs. 7 ZPO das Berufungsurteil in dem besprochenen Beschluss aufgehoben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen, weil das Berufungsgericht durch die Zurückweisung des neuen Vortrags und Beweisantrags in der Verkennung des § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt hat.

C. Kontext der Entscheidung
Die in § 139 Abs. 4 ZPO geregelte Dokumentationspflicht soll es dem Rechtsmittelgericht ermöglichen, die Hinweiserteilung gemäß § 139 Abs. 1 bis 3 ZPO zuverlässig zu überprüfen. Sie gehörte zu den umstrittensten Neuregelungen durch das ZPO-Reformgesetz (vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 147, 155; Musielak/Stadler, ZPO, 8. Aufl., § 139 Rn. 26, m.w.N.).

Gemäß § 139 Abs. 4 Satz 1 HS. 2 ZPO müssen alle richterlichen Hinweise – innerhalb oder außerhalb der mündlichen Verhandlung – aktenkundig gemacht werden. Zur Form der Aktenkundigkeit enthält das Gesetz keine Vorgaben. Bei schriftlichen Hinweisen außerhalb der mündlichen Verhandlung ist der Text zu den Akten zu geben, bei telefonischen Hinweisen eine Aktennotiz anzufertigen (vgl. BT-Drs. 14/4722, S. 78). Bei Hinweisen innerhalb der mündlichen Verhandlung ist die Aufnahme in das Sitzungsprotokoll erforderlich (§ 160 Abs. 2 ZPO). Die fehlende Dokumentation kann noch im Tatbestand des Urteils (BGH, Beschl. v. 02.12.2004 - IX ZR 56/04 Rn. 3; BGH, Urt. v. 22.09.2005 - VII ZR 34/04 - BGHZ 164, 166 Rn. 26) oder im Rahmen tatsächlicher Feststellungen in den Entscheidungsgründen (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 06.10.2004 - 9 U 81/03 - MDR 2005, 647 Rn. 5) nachgeholt werden.

Das Gericht genügt seiner Hinweispflicht nicht, wenn es lediglich allgemeine oder pauschale Hinweise erteilt (BGH, Urt. v. 22.09.2005 - VII ZR 34/04 - BGHZ 164, 166 Rn. 29; BGH, Beschl. v. 23.04.2009 - IX ZR 95/06 - NJW-RR 2010, 70 Rn 7). Ausnahmsweise kann ein bloßer Protokollvermerk über die Erörterung der Sach- und Rechtslage als Dokumentation des Hinweises auf Bedenken gegen die Schlüssigkeit ausreichen, wenn sich die Erteilung eines solchen Hinweises auch aus dem anschließenden Schriftsatz einer Prozesspartei ergibt (BGH, Urt. v. 13.07.2005 - IV ZR 47/04 - FamRZ 2005, 1555 Rn. 15).

Gemäß § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO kann die Erteilung rechtlicher Hinweise nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Sofern die Akten dies nicht hinreichend dokumentieren, gilt der Hinweis als nicht erteilt (BGH, Urt. v. 20.06.2005 - II ZR 366/03 - NJW-RR 2005, 1518). Es darf daher kein Beweis erhoben werden zur Frage, ob die Vorinstanz einen Hinweis erteilt hat (so schon Begr. BT-Drs. 14/4722, S. 78; OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 30.09.2003 - 9 U 148/02 - NJW-RR 2004, 428 Rn. 25). Zulässig ist nur gemäß § 139 Abs. 4 Satz 3 ZPO der Nachweis der Fälschung (vgl. § 165 Satz 2 ZPO) oder ggf. eine Berichtigung des Protokolls (§ 164 ZPO).

Im vorliegenden Fall hatte das Berufungsgericht durch Vernehmung der Mitglieder des Prozessgerichts der ersten Instanz und weiterer Zeugen entgegen § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO Beweis zu der Frage erhoben, ob die Vorinstanz einen erforderlichen Hinweis erteilt hatte. Der BGH bestätigt in seiner Entscheidung höchstrichterlich, dass dem Rechtsmittelgericht als Rechtsfolge des § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO verwehrt ist, einen solchen Beweis zu erheben.

Im vorliegenden Fall hatte ferner das Erstgericht eine Erörterung der Darlegungs- und Beweislast protokolliert. Der IX. Zivilsenat verweist dazu auf die gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, dass das Gericht seiner Hinweispflicht mit der Erteilung lediglich allgemeiner oder pauschaler Hinweise nicht genügt. So lag der Fall hier.

Da folglich in den Akten ein ausreichender Hinweis nicht dokumentiert war und auch keine weiteren Anzeichen ergaben, dass das Landgericht der Klägerin den erforderlichen Hinweis erteilt hätte, war – gemäß § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO – von dessen Nichterteilung auszugehen. Ferner war die Zurückweisung des neuen Vortrags und Beweisangebots der Klägerin gemäß § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet verfahrensfehlerhaft.

Dieser Verfahrensfehler war zugleich als eine Verletzung des Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zu werten. Art. 103 Abs. 1 GG ist bei einer fehlerhaften Anwendung von Präklusionsvorschriften verletzt, wenn – wie hier – die Zurückweisung von Vorbringen als verspätet im Prozessrecht keine Stütze findet (BGH, Beschl. v. 17.05.2011 - X ZR 77/10 - GRUR 2011, 853 Rn. 18, m.w.N.). Dementsprechend hat der IX. Zivilsenat in dem besprochenen Beschluss der Nichtzulassungsbeschwerde stattgegeben und das Berufungsurteil aufgehoben. Gemäß § 544 Abs. 7 ZPO kann das Revisionsgericht in dem der Nichtzulassungsbeschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen, wenn das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

D. Auswirkungen für die Praxis
Die Dokumentationspflicht gemäß § 139 Abs. 4 ZPO soll eine sichere Grundlage für die Beurteilung der Hinweiserteilung gemäß § 139 Abs. 1 bis 3 ZPO in der Rechtsmittelinstanz schaffen und ist damit vor allem für das Rechtsmittelverfahren von Bedeutung. Unterbleibt nämlich ein gemäß § 139 Abs. 1 bis 3 ZPO gebotener Hinweis, so kann dies wegen möglicher Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. zu den Voraussetzungen in st. Rspr. BGH, Beschl. v. 28.07.2011 - VII ZR 141/09 Rn. 7, m.w.N.) einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellen und zur Zurückverweisung führen. Ebenso kann – wie der vorliegende Fall zeigt – die richtige Anwendung der Präklusionsvorschriften von der Erteilung eines erforderlichen richterlichen Hinweises und dessen Dokumentation abhängen.

Auch wenn ein ordentliches Rechtsmittel gegen die Entscheidung nicht mehr gegeben ist, sind die Hinweise zu dokumentieren. Im Hinblick auf das Abhilfeverfahren nach § 321a ZPO bzw. eine eventuelle Verfassungsbeschwerde, d.h. die Möglichkeit, eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Wege außerordentlicher Rechtsbehelfe geltend zu machen, ist es auch in diesem Fall wichtig, den Hinweis aktenkundig zu machen.

Auf die Dokumentation eines dem Gegner tatsächlich erteilten richterlichen Hinweises ist zu achten, um einer Zurückverweisung der Sache durch das Rechtsmittelgericht in Anwendung der Beweisregel des § 139 Abs. 4 Satz 2 ZPO vorzubeugen. Dabei ist zu beachten, dass diese Gefahr auch besteht, falls sich das Gericht bei der Dokumentation seines Hinweises zu kurz fassen sollte.